Das dysfunktionale Parteienwesen als eine Ursache der politischen Krise
Eine Expertise von Dr. Wolfgang Schlage

Teil I: Das dysfunktionale Parteienwesen
Trotz massiven Unbehagens weiter Teile des Bürgertums kommt eine bundesweite bürgerliche Opposition nicht auf die Beine. Warum?
Meine Antwort: Das Parteienprivileg in Verbindung mit dem Parteiengesetz ist eines der wichtigsten Hindernisse bei der Herausbildung einer legitimen bürgerlichen Opposition. Wieso?
Als wichtigstes Parteienprivileg dürfen sich bei Bundestagswahlen nur politische Parteien um die alles entscheidenden Zweitstimmen bewerben.
Eine bürgerliche Opposition mit bundesweiter Wirkung muss sich daher als Partei organisieren. Einer effektiven parteipolitischen Organisation aber steht das Parteiengesetz entgegen, wie der Verfasser in den letzten zehn Jahren schmerzhaft erfahren musste.
1. Falsche Parteienhierachie
Das Parteiengesetz verlangt – mit dem Ziel, die Mitwirkung aller Mitglieder an der innerparteilichen Willensbildung zu garantieren –, dass Parteien demokratisch organisiert sind. Dafür haben Gesetzgeber und Rechtsprechung eine Unzahl von Regelungen eingeführt. Damit sich eine Partei nicht von der Gesellschaft abkapselt, darf sie zudem keinen allgemeinen Aufnahmestopp für neue Mitglieder verhängen.
Genau die Regeln, die die gleichberechtige Mitwirkung aller Parteimitglieder garantieren sollen, gefährden aber diese Mitwirkung. Schlimmer noch, sie verhindern, dass politische Parteien ihre wichtigsten Aufgaben erfüllen, nämlich fähige Personen in die Politik zu holen und sie als geeignete politische Kandidaten der Öffentlichkeit zu präsentieren.
Hier eine Auswahl von Regeln, denen Parteien unterworfen sind: (a) Gremien müssen definiert werden. Diese brauchen (b) Geschäftsordnungen. Für deren Wahl sind (c) Wahlversammlungen zu definieren, für die (d) Einladungsfristen und (e) Einladungsumfänge zu definieren sind. (f) Rederecht, (g) Abstimmungsrecht usw. müssen festgelegt werden. (h) Wahlverfahren sind als zulässig oder unzulässig zu bestimmen. Die Einhaltung der Regeln überwachen (i) innerparteiliche Schiedsgerichte mit (j) Besetzungsanforderungen, (k) Geschäftsordnungen, (l) Einspruchs- und Widerspruchsfristen usw. Dies alles steht in (m) Bundes-, (n) Landes- und (o) Kreisparteisatzungen.
Ergebnis: Statt der erhofften Demokratisierung gibt es eine neue Hierarchie. Gestalten können nur die, die diese innerparteilichen Mechanismen beherrschen. Sie brauchen entweder eine ausgesprochene Bürokratenmentalität oder ausgeprägtes Machtbewusstsein, das sich über diese Regeln großzügig hinwegzusetzen weiß. Und, vielleicht noch wichtiger: viel Zeit. Eine neue Klasse innerparteilicher Machthaber ist entstanden: Experten nicht in Politik, sondern in innerparteilichen bürokratischen und sozialen Mechanismen. Es sind überwiegend solche – müssen es sein, wenn sie Erfolg haben wollen –, die außer Parteiarbeit nicht viel anderes im Leben vorhaben: Karriereorientierte und emotional motivierte „Aktivisten“.
2. Dysfunktionales Diskussionsklima
Die herrschende Parteienverfassung gibt einzelnen mit der seelischen Disposition zum selbstdarstellerischen Narzissmus oder auch nur fanatischem Selbstbewusstsein jede Möglichkeit, das Parteileben zu behindern. Ein ehemaliger LKR-Vorsitzender sagte mir, er hätte 70 bis 80 % seiner Vorstandszeit mit innerparteilichen Querulanten verbracht, nicht mit der eigentlichen politischen Arbeit. Aus der Partei ausschließen kann man auch notorische Querulanten aufgrund des Parteiengesetzes praktisch nicht.
Das Verbot eines generellen Aufnahmestopps führt dazu, dass Parteien, wie früher reich beladene Handelsschiffe, von „Politik-Piraten gekapert“ werden können. Wenn eine junge Partei aufgrund der harten Arbeit des Gründungsvorstands und der ersten Mitglieder Erfolg zu haben beginnt, wird sie interessant für karriereorientierte sowie ideologisch motivierte Trittbrettfahrer. Wenn es genügend sind, können sie sich ins gemachte Bett geordneter Finanzen und einer funktionierenden Organisationstruktur legen, die idealistischen Gründer verdrängen und ihnen den Erfolg ihrer Arbeit wegnehmen. Der AfD unter Bernd Lucke und den Piraten ist dies in unterschiedlicher Weise passiert. Die Rücksichtslosen und Unfähigen haben die Fähigen verdrängt.
Der Autor
Dr. Wolfgang Schlage, Jahrgang 1954, ist studierter Volkswirt und erwarb in den USA zudem den Master in Psychotherapie. Seine volkswirtschaftliche Promotion untersucht die Wirksamkeit preislicher Instrumente in der Umweltpolitik. Er war an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität München und später im Bereich der Vermögensverwaltung tätig. Während eines 10-jährigen USA-Aufenthalts arbeitete er nach seinem Studium in der Notfallpsychiatrie. Inzwischen ist er im Ruhestand.
An der Seite von Professor Bernd Lucke engagierte er sich politisch zunächst in der AfD, die er mit ihm 2015 wieder verließ. Im Anschluss trat er der LKR bei. Seit 2019 ist er Landesvorsitzender in Hamburg.
Wolfgang Schlage fokussiert zurzeit sein Interesse auf das Zusammenspiel von Sozialpsychologie, Wirtschaftspolitik und Politik allgemein; ein Spezialinteresse ist die Reform der jetzigen dysfunktionalen Parteiendemokratie. Seit April 2022 ist er Mitglied des BFA.
3. Verdrängung der Fähigen durch die Skrupellosen
Ist eine solche Parteiorganisation denn wenigstens geeignet, ihre vielleicht wichtigste Aufgabe zu erfüllen, nämlich fähiges politisches Personal anzuziehen und auf wichtige Aufgaben in der Politik vorzubereiten? Dies beantwortet – leider negativ – die Frage: Wer kommt in einem solchen System nach oben, und, vielleicht noch wichtiger: Wer ist überhaupt bereit, sich dies anzutun?
Wenn ich Bekannte ansprach, ob sie sich nicht eine Mitarbeit in meiner Partei, der LKR, vorstellen könnten, lehnten die Gefragten regelmäßig ab, ohne überhaupt nachzudenken. Sie hatten schlichtweg keine Lust auf Parteimitgliedschaft. Sie sehen ihre Lebensaufgabe in Beruf, Familie oder in ihren Hobbys, aber keinesfalls in „der Politik“, für die sie eine leichte Verachtung empfinden. Die Weigerung der bürgerlichen Klasse, sich in eine Parteistruktur einzubringen, ist einer der wesentlichen Gründe für das Fehlen einer bürgerlichen Opposition. Es hat m.E. auch zu einer inneren Abwendung von der Demokratie geführt: Man lässt „die da oben“ einfach machen, weil man sich dem politischen Prozess hilflos ausgeliefert sieht.
4. Versagen bei der Personalauswahl
Gelingt es denn den anderen, etablierten, Parteien, geeignetes Personal anzuziehen und nach oben zu bringen? Die kurze Antwort lautet: Nein.
Wie man am gegenwärtigen politischen Personal gerade auch in der Bundespolitik sieht, haben es eine große Anzahl Unfähiger geschafft, Ministerämter zu erhalten. Auch die etablierten Parteien ziehen nicht mehr wirklich Fähige an, und auch in den etablierten Parteien setzen sich nicht die politisch Fähigsten, sondern die „Experten in Parteipolitik“ durch. Ein Beobachter (ich habe vergessen wer) sagte einmal: Politische Parteien seien nur noch interessant für "Betriebsnudeln und Streithansel". So sehen unsere Politiker auch aus: Twittern können sie alle, von der Sache verstehen sie meist wenig.
Der Teil II dieses Essays untersucht die Frage, was man gegen diese Entwicklung tun kann.
Teil II: Das dysfunktionale Parteienwesen: Was kann man tun?
(Dies ist Teil II eines zweiteiligen Essays zum dysfunktionalen Parteiwesen.)
Angesichts meiner Kritik an der Parteienverfassung kommt oft die Erwiderung: Aber was willst du denn machen? Hier erste Ideen.
1. Problembewusstsein schaffen
Viele beginnen zu erkennen, dass eine große Mehrheit unserer Politiker ungeeignet ist. Aber nur Wenigesehen, dass unsere Politiker das erwartbare Produkt der herrschenden Parteienkultur sind. Viele kritisieren viel, ohne zu sehen, dass Kritik, selbst wenn sie zu Rücktritten führen sollte, wenig hilft: Das Auswechseln eines Politikers, der Produkt dieser Parteienkultur ist, gegen einen anderen, der Produkt der gleichen Parteienkultur ist, bringt wenig. Wenn allen klar wäre, dass unsere schlechten Regierungen voraussagbares Ergebnis einer dysfunktionalen Parteistruktur sind, könnte eine breite Diskussion beginnen, wie man dieses Problem aktiv angehen könnte.
2. Das Wahl- und Parteiengesetze ändern
Wahl- und Parteiengesetze schreiben in detaillierter Form innerparteiliche Strukturen und öffentliche Wahlverfahren vor. Das meiste davon ist nicht grundgesetzlich verankert und könnte durch einfaches Gesetz geändert werden.
a) Lockerung innerparteilicher Vorschriften
Man könnte Parteien mehr Freiheiten geben bei der Regelung ihrer inneren Organisation, so dass zwischen Parteien ein demokratischer Wettbewerb um die besten Strukturen entstehen könnte: Welche Organisationsform bringt gute Programme und fähige Kandidaten hervor? Welche zieht geeignete Mitglieder an? Die Wähler würden das vermutlich honorieren.
b) Öffnung für Organisationen, die nicht Parteien sind
Statt einer Änderung der innerparteilichen Vorschriften könnte man auch die Wahlen für Organisationen öffnen, die nicht den Vorgaben des jetzigen Parteiengesetzes oder ähnlicher Anforderungen unterliegen. Ein großer Schritt wäre, wenn auch Nicht-Partei-Organisationen mit eigenen Listen zur Bundestagswahl antreten könnten.
Alternativ könnte man die Zulassung einer „Einmannpartei“ erwägen, also die Möglichkeit, dass ein Politiker eine politische Partei gründet, die nur ihn selbst als Mitglied hat. Wäre das undemokratisch? In den Niederlanden, die man gewiss nicht als eine Diktatur bezeichnen kann, gibt es diese Möglichkeit.
c) Wahlrechtsänderungen
Eine Stärkung der Direktmandate könnte die Macht der Parteiorganisationen begrenzen und Menschen in die Politik holen, die sich auf die Wähler in ihrem Wahlkreis stützen, nicht aber auf die Zustimmung eines dysfunktionalen Parteiklüngels angewiesen sein wollen. In England ist gerade die Absetzung zweier Premierminister durch selbstbewusste direkt gewählte Abgeordnete passiert. In Deutschland hingegen fanden sich in CDU und CSU über 16 Jahre keine Abgeordneten, die Frau Merkel hätten abwählen wollen und können, weil die sich alle in der Tasche der von Frau Merkel dominierten Parteispitze befanden.
d) Ansatz bei der Parteienfinanzierung
Man könnte auch bei der Parteienfinanzierung ansetzen. Die Wahlkampfkostenerstattungen stehen z.B. der Partei als Gesamtorganisation, also dem jeweiligen Vorstand, zu. Dies macht eine Partei noch attraktiver für die in Teil I erwähnte Kaperung durch Politik-Piraten, denn nach Kaperung gehören der neuen Gruppe alle schon erarbeiteten Wahlkampfkostenerstattungen, auch wenn die neue Gruppe ganz andere Inhalte vertritt als die alte. In der AfD haben sich die Populisten unter Frauke Petry im Jahre 2015 an Arbeit und Geld bereichert, die die gemäßigte Führung unter Bernd Lucke erarbeitet hatte. Vorschlag: Die Wahlkampfkostenerstattungen sollten nicht der Partei, sondern den Mitgliedern zustehen. Wer dann später austritt, würde den erworbenen Anspruch auf Wahlkampfkostenerstattung mitnehmen und auf eine andere Partei seiner Wahl übertragen können.
Man könnte also über eine Fülle von kleineren oder größeren gesetzlichen Änderungen nachdenken, um fähigen Kräften die Teilnahme am politischen Leben zu erleichtern oder zu ermöglichen.
3. Parteipraxis ändern: Die Servicepartei
Kurzfristig ist eine Änderung dieser rechtlichen Grundlagen nicht zu erwarten. Aber eine Partei könnte für sich selbst innerhalb der jetzigen Rechtsordnung Neuerungen probieren.
Zurzeit kämpft sich ein Politiker, der ein Mandat haben möchte, innerhalb der Partei nach oben. Das führt dazu, dass nur Menschen mit der Eignung und Neigung zu innerparteilichen Machtkämpfen am Ende dem Publikum als Kandidaten vorgestellt werden.
Mein Vorschlag wäre eine Partei, die in ihrer Satzung und in ihrer Psychologie verankert, dass innerparteiliche Aufgaben keine Sprungbretter für öffentliche Ämter sind. Aufgabe von Parteimitgliedern und Amtsinhabern wäre allein das Anwerben und Unterstützen geeigneter Kandidaten. Diese Kandidaten wiederum wären von den innerparteilichen Machtkämpfen befreit, so dass sie sich allein auf die Übernahme eines öffentlichen Amtes vorbereiten könnten. So sollen Menschen angezogen werden, die zur Führung eines Gemeinwesens fähig sind, die aber nicht bereit oder in der Lage sind, sich auf die Albernheiten des Partei-Unwesens einzulassen. Auch Kandidaten haben nur ein Leben; wir brauchen solche, die ihre charakterliche und fachliche Eignung auch durch ein Privatleben und einen normalen Beruf beweisen.
Mitglieder und Funktionäre würden eine solche Partei nicht als Sprungbrett für eine öffentliche Karriere ansehen, sondern als Servicepartei am Gemeinwesen, deren Aufgabe es ist, geeignete Personen in öffentliche Ämter zu bringen. Wir hätten es mit einer dienenden, nicht einer herrschenden Partei zu tun.
4. Zusammenfassung
Wenn wir unser Parteiwesen nicht reformieren, wird unser Land auf der jetzigen Abwärtsfahrt bleiben. Zunächst gilt es, dafür ein Problembewusstsein zu schaffen. Rechtliche Änderungen sind längerfristig nötig. Kurzfristig könnte man versuchen, eine Partei zu gründen oder eine existierende zu organisieren, die dem hier skizzierten Bild einer Servicepartei nahekommt.
(BFA - 02.11.2022)