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Der Ukraine-Krieg: Wie konnte es so weit kommen?

Von Walter Münnich, Leiter des Politischen Beirats im BFA



wolfgang.kaiser@bfa-verein.de
Chef des Politischen Beirats im BFA: Walter Münnich

Das Undenkbare, das Unfassbare ist eingetreten: 77 Jahre nach dem Ende des mörderischsten Krieges, der jemals auf europäischen Boden gewütet hat, ist in Europa wieder ein Krieg ausgebrochen.


Krieg setzt alle grundsätzlichen Normen des zivilisatorischen Zusammenlebens außer Kraft. Vertragliche Vereinbarungen, gemeinsame Erklärungen, moralische und humanitäre Selbstverständlichkeiten gelten nicht mehr. Gewalt ist an ihre Stelle getreten. Die Zivilisation ist auf dem Nullpunkt angekommen.


Am 27. Februar hat der Wahnsinn eine neue Steigerung erfahren: Der russische Präsident Wladimir Putin hat seine Atom-Streitkräfte in Alarmbereitschaft versetzt. Eine Maßnahme, die er letztmalig 2014 im Rahmen der Krim-Annektierung angeordnet hatte. Auch aus diesem Grund ist der Aggressor auf das Schärfste zu verurteilen und zu ächten, so wie es in diesen Tagen weltweit passiert.


Doch die Opfer dieser Tragödie verlangen nach mehr. Es ist eine Verpflichtung gegenüber diesen zu klären, wie es dazu kommen konnte. Dies hilft hoffentlich, einen Wiederholungsfall zu verhindern.


Bei der Analyse von Kriegsentstehung ist stets zu unterscheiden zwischen Kriegsauslösung und Kriegsursache.


Kampfhandlungen werden in aller Regel von dem Auslösenden mit Ereignissen begründet, die herbeigelogen oder herbeigefälscht sind. Die moderne Geschichte ist voller Beispiele davon. Damit will der Auslöser seiner Entscheidung Legitimität verleihen. Nichts ist zu dumm, um nicht herangezogen zu werden. Im vorliegenden Fall soll es ein „millionenfacher Genozid im Donbass“ sein.


Eine andere Frage ist die Analyse der wahren Kriegsursachen. Ursachen von Kriegen kann man grob in drei Kategorien fassen, wobei sich diese durchaus auch überlagern können.


Es gibt Unterjochungs- oder gar Ausrottungskriege, oftmals kombiniert mit der Absicht, die auf dem Gebiet der Angegriffenen befindlichen natürlichen Ressourcen oder die Leistungsfähigkeit der Angegriffenen auszuplündern. Ursachen für derartige Kriege sind Größenwahn oder ein animalisches Überlegenheitsgefühl des Angreifers.


Ebenfalls mörderisch wird es, wenn konkurrierende Heilslehren, das können Religionen oder Ideologien sein, aufeinandertreffen.


Schließlich kann Kriegsgefahr zwischen Mächten, die bislang friedlich miteinander lebten, entstehen. Dieses Risiko greift immer dann, wenn sich ein gegebener Status quo zwischen zwei Mächten beginnt zu Lasten des Einen bzw. zu Gunsten des Anderen zu verschieben. Der Ursprung solch einer Entwicklung liegt dabei in aller Regel Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte zurück.


In diese Kategorie gehört der Ukraine-Krieg.


Die Fakten untermauern, dass sich bis 1990/1991 zwei Mächte feindselig und misstrauisch gegenüberstanden: Der von den Vereinigten Staaten angeführte „kapitalistische Westen“ und der „sozialistische Osten“, angeführt von der damaligen Sowjetunion. Das Misstrauen manifestierte sich in den Militärbündnissen „NATO“ auf der westlichen und den „Warschauer Vertragsstaaten“ auf der östlichen Seite. Beide Militärbündnisse waren bis an die Zähne bewaffnet, deren Vernichtungspotential zur mehrfachen Vernichtung der Menschheit gereicht hätte.


Nun hat genau dieses „Gleichgewicht des Schreckens“ zur einer der längsten Friedensperioden in der Geschichte des europäischen Kontinents geführt. Der Grund ist sehr einfach zu erkennen: Es bestand eben ein Gleichgewicht, die Machtverhältnisse waren ausbalanciert. Die feste Statik sorgte für Sicherheit auf beiden Seiten. Jeder Versuch, diese zu Gunsten oder zu Lasten einer der beiden Parteien zu verschieben, sorgte sofort für Kriegsgefahr, wie die seinerzeitige Kuba-Krise eindrucksvoll belegt.


Diese Machtstatik endete mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der sich daraus ergebenden Auflösung des Warschauer Paktes zum 1. Juli 1991. Bis Ende desselben Jahres löste sich die Sowjetunion in eine Reihe von selbstständigen Staaten auf. Die osteuropäischen Staaten wurden somit frei und konnten ihr Schicksal selbst bestimmen.


Wo ehemals der Warschauer Pakt unter Zwang für Gleichgewicht sorgte, war jetzt ein Vakuum entstanden. Kluge Politiker erkannten die Chance, aber auch den Handlungsbedarf: Der scheidende sowjetische Staatspräsident Michail Gorbatschow sprach von der Erschaffung eines „europäischen Hauses“. Das Wort von einer neuen „europäischen Sicherheitsarchitektur“ nicht gegen, sondern „mit Russland“ machte die Runde. In diesem Sinne passierte jedoch nichts. Im Gegenteil: die Statik der Macht begann sich zu Gunsten des Westens und zu Lasten Russlands zu verschieben, eine Chance wurde vertan.


Dadurch wurde der Grundstein für Kriegsgefahr gelegt.


1999 traten Ungarn, Polen und Tschechien der NATO bei. 2009 folgten die baltischen Staaten Bulgarien, Rumänien, die Slowakei und Slowenien. Man kann nachvollziehen, dass die osteuropäischen Nationalstaaten den Wunsch hatten, der europäischen Wertegemeinschaft anzugehören und sich auch unter den NATO-Schutzschirm zu begeben. Es war allerdings ein unverzeihlicher Fehler, dies nicht mit umfangreichen Sicherheitsgarantien für Russland zu kombinieren. Das hätte spätesten 2009 erfolgen müssen, denn 2008 sprach Präsident Putin eine Warnung aus, die unmissverständlich war.


Politische Akzente setzte vor allem der NATO-Gipfel im Dezember 2008: Die Vereinigten Staaten und mehrere osteuropäische Länder wollten Georgien und die Ukraine im Schnellverfahren in die NATO aufnehmen. Der von US-Präsident George W. Bush forcierte Antrag scheiterte zwar, jedoch ließ man fataler Weise die Tür für ein ordentliches Aufnahmeverfahren offen.


Wladimir Putin erklärte damals:


»Wir betrachten die Ankunft eines Militärblocks an unseren Grenzen, dessen Verpflichtungen zur Mitgliedschaft Artikel 5 einschließt, als eine direkte Bedrohung der Sicherheit unseres Landes.«


Spätestens in diesem Augenblick hätte der Westen erkennen müssen, dass die Beitrittszusage für die Ukraine brandgefährlich war. Doch die Dinge nahmen ihren verhängnisvollen Lauf.


Wahrscheinlich auch animiert durch das Beitrittsversprechen der NATO, wurde die damals russlandfreundliche Regierung 2014 weggeputscht, woraufhin prowestliche Kräfte an die Macht kamen. Putin annektierte im Gegenzug die Krim, die für ihn aus strategischen Gründen unverzichtbar war, ist sie doch Stützpunkt der Schwarzmeerflotte und damit Zugang zum Mittelmeer und den Weltmeeren. Kein Sicherheitsexperte der westlichen Welt konnte davon überrascht werden, dass der russische Präsident diesen klaren Völkerrechtsbruch begehen würde, statt sich innenpolitisch selbst zu demontieren.


In den östlichen Provinzen brach ein Bürgerkrieg aus, der bis zum jetzigen Angriff Russlands währte. Mit der Verschärfung der Sprachgesetze innerhalb der Ukraine zu Lasten der russischsprachigen Bevölkerung, es sollen immerhin 36 Prozent sein, und dem massiven Aufbau militärischer Infrastruktur mit Hilfe der Amerikaner, wurde weiteres Öl ins Feuer gegossen. Dies war nicht klug.


Wladimir Putin wartete acht Jahre, bis er, zunächst mit Manövern, eindeutige Reaktionen zeigte. Es bleibt nur zu vermuten, weshalb er so lange wartete.


Vielleicht hoffte er noch auf ein Einlenken der Kiewer Führung. Vielleicht fühlte er sich noch nicht stark genug oder hatte seinen Fokus noch zu sehr auf Tschetschenien oder Georgien gerichtet.


Oder musste die Partnerschaft mit China erst auf einem solideren Fundament stehen? Das Bestehen dieser Voraussetzung wurde dann am Eröffnungstag der Olympiade durch das Treffen mit dem chinesischen Ministerpräsidenten der Weltöffentlichkeit demonstriert.


Nicht auszuschließen ist auch, und das wäre ein fatales Signal, dass der erbärmliche Rückzug des Westens aus Afghanistan von Putin als Zeichen der Schwäche und fortschreitender Dekadenz des Westens interpretiert wird.

Der Krieg wurde durch den russischen Präsidenten ausgelöst – keine Frage. Die Taktik dabei: Der Verlierer ist, wie auch immer der Krieg ausgeht, das ukrainische Volk. Es blutet, nicht nur körperlich, sondern auch seelisch. Der Westen hat die Hoffnung auf Freiheit und Sicherheit geweckt und diese Hoffnung nicht eingelöst. Schlimmer geht es nicht mehr.


So trägt der Westen eine Mitschuld an dieser Tragödie.


Eine Neutralisierung der Ukraine wäre wahrscheinlich die Lösung gewesen. Finnland lebt seit 77 Jahren gut damit.



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Der Autor wird in einem Folgebeitrag die aus dem Krieg herrührenden Erkenntnisse und die daraus resultierenden Konsequenzen thematisieren.



(BFA - 28.02.2022)






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