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Plädoyer für Menschlichkeit und gegen Cancel Culture - auch für unsere russischen Mitbürger

Von Robert von Radetzky, bildungs- und kulturpolitischer Sprecher des BFA



wolfgang.kaiser@bfa-verein.de
Robert von Radetzky sitzt im Politischen Beirat des BFA und ist Sprecher für Bildung und Kultur

Die Wortkombination »Cancel Culture« taucht seit 2016 vermehrt auf. Es richtete sich zunächst gegen diejenigen, die aufgrund ihres Geschlechts oder ihrer Hautfarbe als privilegiert angesehen wurden. Mittlerweile wird Cancel Culture eingesetzt, um missliebige Menschen und ihre Meinungen oder ihr Verhalten auszugrenzen und zu diskriminieren und sie umzuerziehen. Der dabei verwendete Maßstab wird nach Gutdünken der Anwender bestimmt.


Diese Art Kultur, soweit man sie denn so nennen kann, steht im Gegensatz zu den Grundbestimmungen unseres Grundgesetzes, insbesondere der Achtung der Würde des Menschen.


Das Wertefundament, das die im Bürgerlich-Freiheitlichen Aufbruch organisierten Menschen eint, ist eindeutig: „Das christlich-abendländische Menschenbild von Freiheit, Selbstbestimmung, Nächstenliebe, Verantwortung für sich selbst und für die Gemeinschaft bildet unsere Wertebasis.“


Dieser Wertekanon gilt auch in einem Krieg. Gerade dann. Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine erlaubt keine zwei Meinungen, er ist deutlich zu verurteilen. Mit Befremden und nun auch mit Empörung ist jedoch festzustellen, wie immer mehr Russisches – nur weil es russisch ist - zur Zielscheibe einer wohlfeilen Cancel Culture wird.


Über die Ausladung der Star-Sopranistin Anna Jurjewna Netrebko kann man noch geteilter Meinung sein, da sie sich für die Propaganda eines Wladimir Putin hergegeben hat. Aber auch dort fängt schon die Grauzone an: Mit welchem Recht beurteilen wir die politische Meinung einer Künstlerin? Sollte nicht ihr künstlerisches Schaffen im Vordergrund stehen? Und wenn man schon dabei ist, zu „Canceln“: Wo fängt man an, wo hört man auf?


Deutsche Supermärkte entfernen „russische“ Produkte, selbst wenn sie in Paderborn hergestellt werden. Buchläden entfernen russische Literatur, Russen werden auf der Straße angefeindet. Mag sein, dass es sich um Einzelfälle handelt, aber sie kommen vor. Und selbst in der Schweiz, die für viele von uns politisches Vorbild ist, schlägt Cancel Culture zu: So liest man in der Ausgabe der Zuger Zeitung vom 15. März, dass der 28-jährigen Cellistin Anastasia Kobekina verwehrt wird, ein Konzert in der Kartause Ittingen zu geben – ausgeladen, weil sie Russin ist. „Die politische Situation erfordert ein klares Bekenntnis“, so meldet es die Zuger Zeitung.


Ein anderes Bekenntnis wäre dringend geboten. In den Leserbriefen derselben Ausgabe bringt es Kaplan Simon Zihlmann auf den Punkt: „Jesus lehrt uns, für unsere Feinde zu beten.“ Man muss kein Christ sein, um hier den Leitfaden für richtiges Handeln zu sehen.


Der beschriebene Hass auf alles Russische ist menschlich abzulehnen, und er ist politisch töricht. An wen soll sich denn die junge Cellistin wenden? Stimmt dann nicht die russische Propaganda, dass der Westen einen Kreuzzug nicht nur gegen ein Regime, sondern gegen alles Russische unternimmt?


Jeder Krieg endet einmal, wie wollen wir denn danach wieder miteinander umgehen?


Es war immer eine Stärke der westlichen Gesellschaften, Gegensätze zu integrieren, auszutarieren und auch auszuhalten. Cancel Culture untergräbt diese Stärke. Sie bedeutet permanente Eskalation, sie ist besserwisserisch und vor allem feige. Cancel Culture bedeutet in allen ihren Facetten, ob sie sich gegen „Rechts“ wendet oder derzeit gegen alles Russische, immer einen Angriff auf unsere offene Gesellschaft.


Wir können alle etwas tun, um diesem Irrdenken entgegenzutreten. Halten wir Kontakt zu russischen Bekannten, lesen wir mal wieder Nabokov oder Dostojewski, und trinken ruhig mal einen guten Wodka.


Die Verbindung zwischen Deutschen und Russen ist alt und tief. Vielen ist bekannt, dass die russische Sprache sehr viele Lehnwörter aus dem Deutschen hat, eines der schönsten ist брудерша́фт – Brüderschaft und dieses Lehnwort weist darauf hin, was die Russen uns sein sollten - Brüder und Schwestern.



(BFA - 17.03.2022)






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