Zum Friedensnobelpreis an die Menschenrechtsorganisation Memorial
Aktualisiert: 6. Nov. 2022
Von Robert von Radetzky, kulturpolitischer Sprecher des BFA

Früher waren Verleihungen von Nobelpreisen Ereignisse, bei denen die ganze Welt kurz den Atem anhielt. Doch der Nimbus ist längst verflogen, man zuckt mit den Schultern und geht weiter. Zu oft ist die politische Agenda zu offensichtlich, erinnert sei hier exemplarisch an den Nobelpreis für den frisch gewählten US-Präsidenten Barack Obama im Dezember 2009.
In diesem Jahr ging der begehrte Friedensnobelpreis unter anderem an die russische Menschenrechtsorganisation Memorial, und selbstverständlich ist diese Preisvergabe vor dem Hintergrund des russischen Angriffes auf die Ukraine zu sehen.
Dennoch ist diese Preisverleihung zu begrüßen - und zwar aus zwei Gründen: Die russische Gesellschaft ist kein monolithischer Block, der jubelnd hinter dem sich immer totalitärer werdenden Regime steht und zweitens bewahrt Memorial das antitotalitäre Erbe, das auch die DNA unseres liberal-konservativen Vereins ausmacht. Dieses Erbe ist auch im Westen gefährdet. Umso dringlicher ist es, unsere Verbundenheit mit allen antitotalitären Strömungen aufzuzeigen.
Wer sich eingehender mit der Geschichte des Vereins Memorial beschäftigen möchte, findet im deutschsprachigen Netz die entsprechende Seite, die russische Seite ist nicht mehr aufrufbar, unklar, ob das an der Web-Adresse ».ru« liegt, die möglicherweise von der Europäischen Union gesperrt wurde oder an einer russischen Blockierung. Es ist zu befürchten, dass die Seite von der EU gesperrt worden ist.
Die Aufgaben Memorials definiert der Verein wie folgt:
Wiederherstellung der historischen Wahrheit über die politischen Repressionen in der Sowjetunion;
Errichtung von Denkmälern, Sammlungen und Veröffentlichung von dokumentarischen Quellen; wissenschaftliche Untersuchungen (…);
soziale und juristische Betreuung von Opfern politischer Repression und ihrer Angehörigen;
Unterstützung bei der Durchsetzung von Entschädigungsansprüchen (…);
Mitwirkung beim Aufbau einer Zivilgesellschaft sowie aktuelle Menschenrechtsarbeit;
Öffentliche Stellungnahmen und Aktionen zur Gestaltung eines demokratischen Rechtsstaates, der einen Rückfall in einen totalitären Staat ausschließt; Entsendung von unabhängigen Beobachtern in Konfliktgebiete und Veröffentlichung von Berichten über Menschenrechtsverletzungen (z.B. Tschetschenien oder in der Ostukraine); gesellschaftlich-juristische Beratung für Flüchtlinge; Einsatz für den Schutz von politischen Gefangenen;
Gegründet wurde Memorial 1988, in Zeiten von Glasnost. Bis dahin war die Benennung der stalinistischen und post-stalinistischen Verbrechen ein Tabu und wurde schwer geahndet. Durch die Arbeit von Memorial konnten zahllose Familien Ort und Todeszeitpunkt ihrer Angehörigen in Erfahrung bringen und so zumindest ansatzweise mit der Vergangenheit abschließen, das ist alles andere als banal.
Aus der Beschäftigung mit den sowjetischen Verbrechen entstand die Forderung, dass solche ungeheuren Verbrechen sich nie wiederholen dürfen. Hier lohnt sich auch der Hinweis auf das russische GULAG History Museum in Moskau. Ein beeindruckendes Staatsmuseum, das mit Memorial nicht verbandelt ist und trotz der Repressionen, aktuell noch besteht.
Mit der Machtübernahme durch Wladimir Putin veränderten sich die Vorzeichen, unter denen eine Aufarbeitung des Stalinismus und der sowjetischen Geschichte stattfindet. Geschichtsschreibung spielt sich immer in einem konkreten zeitgeschichtlichen Rahmen ab. Was heute diskutiert wird, war gestern irrelevant und wird morgen bei Seite geschoben. Geschichte ist immer ein Argument, sie kann staatliche Herrschaft sichern und gesellschaftlichen Konsens herstellen. Deutschlands Umgang mit der NS-Herrschaft ist hierfür ein gutes Beispiel: Die Bundesrepublik hat ihre Legimitation auch aus der Ablehnung der NS- und der sowjetischen Stalin-Herrschaft bezogen. In Russland entwickelte sich seit den 2000er Jahren ein gegenteiliges Verständnis der Geschichte: Nicht die Ablehnung, sondern die Bejahung dient hier der Schaffung eines nationalen Konsenses. Und diese Bejahung bedeutet, dass die glorreichen Zeiten der russischen Geschichte hervorgehoben werden. Zentral dabei ist der Sieg über Hitler-Deutschland. Nichts war erniedrigender, als dass Veteranen auf windigen Märkten nach der Perestroijka ihre Ehrenabzeichen verscherbeln mussten. Ein Zeichen eines Niedergangs des Imperiums. Der Zerfall der Sowjetunion war und ist für die russische Gesellschaft ein traumatisches Erlebnis. Warum dies für die anderen Völker der Sowjetunion nicht der Fall ist, ist naheliegend, aber hier nicht Thema.
Es ist somit konsequent, dass kritische Stimmen, die die objektiv sehr dunklen Seiten der sowjetischen Herrschaft thematisierten, schnell als Nestbeschmutzer diskreditiert wurden. Während im Land Stalindenkmäler errichtet wurden, wurde Memorial einer sich verstärkenden Repression ausgesetzt. Forschungsvorhaben wurden behindert, Gedenkstätten geschlossen und dem Verein bürokratische Knüppel zwischen die Beine geschmissen. Memorial wurde als Opposition wahrgenommen und war es auch. Der bürokratische Todesstoß kam, als die russische Regierung Memorial als „ausländischen Agenten“ einstufte. Ein solcher ist, wer Kontakte ins Ausland oder Geld aus dem Ausland erhält; ein Gesetz, das 2012 in Kraft trat und dem russischen Staat quasi unbeschränkte Möglichkeiten der Einschüchterung und Behinderung gibt.
Memorial war im Laufe der Jahre tatsächlich zu einer internationalen Organisation gewachsen. In Deutschland versuchte der hiesige Ableger die Geschichte der tausenden Deutschen aufzuarbeiten, die von der DDR aus in die Sowjetunion verschleppt wurden oder in den NKWD-Lagern auf deutschem Boden ermordet oder gefangen gehalten wurden. Der Stalinismus und die Sowjet-Herrschaft waren keine rein sowjetische Angelegenheiten, im gesamten sowjetischen Herrschaftsgebiet hatte nach 1945 eine Schreckensherrschaft die vorherige abgelöst.
Vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges sind die Aussichten für Memorial als ausgesprochen pessimistisch zu bezeichnen. Die Moskauer Geschäftsstelle, die ich 2019 noch habe besuchen können, musste schließen, das Vermögen wurde eingezogen. Im Gefolge des Ukraine-Krieg, den Putin mit seinem historischen Aufsatz ideologisch vorbereitet und eingeleitet hat, wird jede Tätigkeit verboten, die der historistisch legitimierten neo-stalinistischen Herrschaftssicherung entgegensteht.
Man muss Memorial für seinen mutigen Einsatz danken. Vergessen wir nicht, dass es deren Mitglieder waren, die oftmals den Angehörigen von Verschleppten und Ermordeten ermöglichten, mehr über das Geschehene und den Verbleib der Toten zu erfahren.
Wir Deutsche hatten das zweifelhafte Vergnügen, im letzten Jahrhundert zwei Diktaturen zu erleben, die nationalsozialistische und in der DDR, die sowjetische. Man mag letztere mit Recht als milder bezeichnen, die Herrschaftsmechanismen waren aber sehr vergleichbar. Deswegen hatte sich in der Wissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg die These des Totalitarismus durchgesetzt, eine sehr brauchbare Methode, um beide Herrschaftsformen zu analysieren. Ihn kennzeichnet: bürokratischer Durchgriff des Staates, Gewalt, Unterdrückung bzw. Ausschaltung der Opposition und nicht zuletzt ein manipulativer Gebrauch der Sprache.
Die Bundesrepublik Deutschland hat sich immer als anti-totalitäres Staatswesen verstanden. Die Ablehnung von Nationalsozialismus und Kommunismus ist allen demokratischen Parteien gemein, und es war auch dieses ideologische Fundament, dass die Bundesrepublik zu einem überaus erfolgreichen Staat gemacht hat.
Leider ist diese anti-totalitäre Erbe auch im Westen in Gefahr. Cancel Culture, die Entmenschlichung des politischen Gegners (Schwurbler, Nazi, Corona-Leugner etc.) sind Zeichen an der Wand, die wir nicht übersehen dürfen. Richtschnur ist und bleibt, dass die Würde des Menschen unantastbar ist.
Eine Aufgabe für heute und für morgen.
(BFA - 05.11.2022)
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